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Filipowitsch, Ludmila "Krieg ist eben Krieg …"


Es gibt Ausnahmen aus der Regel. Das Standarderscheinungsbild eines Personalchefs: in seinem Büro, hinter einem Schreibtisch mit einem Berg von Papier, „auf der Nase eine Brille, in der Seele Herbst“. Dieses Bild passt einfach überhaupt nicht zum Führungsstil von Polizeioberst Jurij Romanjuk, dem Personalchef der Hauptverwaltung des Uraler Föderativen Verwaltungsbezirke beim Innenministerium der Russischen Förderation. Obwohl natürlich der Anteil der rein analytischen Arbeit in seiner Tätigkeit nicht den geringsten Teil seiner Arbeitszeit ausmacht, bevorzugt er Lösungen, die nicht zum Standardrepertoire gehören. Natürlich kann man seine Person und seine Tätigkeit nicht erschöpfend darstellen, aber es gibt ein sehr aussagekräftiges Detail: Länger als jeder andere Führungsoffizier der Hauptverwaltung des Uraler Föderativen Verwaltungsbezirks beim Innenministerium der Russischen Förderation war Jurij Romanjuk auf Dienstreisen in den Brennpunkt Tschetschenien. Jurij Michajlowitsch fand und findet, dass in Extremsituationen der Charakter eines Menschen auf die Probe gestellt wird und das Beste und Schlechteste in jedem Menschen sichtbar wird.
Es gibt Ausnahmen aus der Regel. Das Standarderscheinungsbild eines Personalchefs: in seinem Büro, hinter einem Schreibtisch mit einem Berg von Papier, „auf der Nase eine Brille, in der Seele Herbst“. Dieses Bild passt einfach überhaupt nicht zum Führungsstil von Polizeioberst Jurij Romanjuk, dem Personalchef der Hauptverwaltung des Uraler Föderativen Verwaltungsbezirke beim Innenministerium der Russischen Förderation. Obwohl natürlich der Anteil der rein analytischen Arbeit in seiner Tätigkeit nicht den geringsten Teil seiner Arbeitszeit ausmacht, bevorzugt er Lösungen, die nicht zum Standardrepertoire gehören. Natürlich kann man seine Person und seine Tätigkeit nicht erschöpfend darstellen, aber es gibt ein sehr aussagekräftiges Detail: Länger als jeder andere Führungsoffizier der Hauptverwaltung des Uraler Föderativen Verwaltungsbezirks beim Innenministerium der Russischen Förderation war Jurij Romanjuk auf Dienstreisen in den Brennpunkt Tschetschenien. Jurij Michajlowitsch fand und findet, dass in Extremsituationen der Charakter eines Menschen auf die Probe gestellt wird und das Beste und Schlechteste in jedem Menschen sichtbar wird. [Wiederholung: sic!]
Ich kenne den Dienst meiner Untergebenen, meiner Kollegen nicht vom Hörensagen. Ich verstehe sie. Und sie verstehen mich. Ich war mit vielen von ihnen im Krieg. Einsätze an Brennpunkten ist eine Geschichte für sich und es ist eine besondere Kategorie Menschen, mit denen man dort zu tun hat, sagt Oberst Romanjuk.
Er mag es nicht, den Frontalltag lang und breit auszumalen, erinnert sich wortkarg und zurückhaltend. Es ist übrigens charakteristisch für Leute, die über einen längeren Zeitraum hinweg in Tschetschenien gedient haben, die Ausdrücke sorgfältig zu wählen, wenn sie darüber sprechen. Niemand glaubt einem Gesprächpartner (besonders heute nicht), der fröhlich, laut und redselig von seinen „tschetschenischen“ Heldentaten berichtet. Am tschetschenischen Kriegsschauplatz gibt es weder Sieger noch Besiegte. Es gibt nur Erde, mit Blut getränkt, Trauer, Leid, Schmerz und Hoffnung. Keineswegs zufällig wurde nach dem ersten tschetschenischen Krieg im russischen Offiziersverband ein Lied getextet, in dem es die folgenden, an den ehemaligen Verteidigungsminister gerichteten Wörter gibt: „Und Sie sagten, Pawel Sergejewitsch, wir brauchen dazu nur ein Regiment und zwei, drei Stunden bloß…“. Und weiter: „Wir scheuen keine Opfer, wir kämpfen für Russland, nicht für Orden“…
In diesem Sinne macht Jurij Michajlowitsch nicht viele Worte. Man muss die Kommentare zu Tschetschenien förmlich aus ihm herauslocken. Aber ich verstehe das: Es ist normal.
Wie oft waren Sie in Tschetschenien? Wann waren Sie das erste Mal dort? Worin bestand dort Ihre Aufgabe?
In Tschetschenien war ich mehr als ein dutzend Mal während beider Kriege. Ich hatte dort die unterschiedlichsten Aufgaben zu erledigen. Das erste Mal war ich Mai 1995 in Tschetschenien. Kampfhandlungen waren an der Tagesordnung. Zu Beginn sah ich noch in jedem Einheimischen einen potentiellen Kämpfer. Nach drei Tagen hatte ich mich aber eingewöhnt, das Land kennen und lieben gelernt. Im zweiten Tschetschenienkrieg war ich auch oft da unten. Das letzte Mal im Dezember 2002. Ich war nicht nur ein, zwei Tage, sondern Wochen und Monate unterwegs. Ich war an Kontrollpunkten und auf Spezialeinsätzen. Ich habe nie einen Angriff geleitet, geriet aber mehr als einmal unter Feuerbeschuss. Ich war einer gemischten Abteilung beikommandiert, löste Versorgungsprobleme der Truppe, Probleme der Kommandeure von einzelnen Einheiten, Probleme der Zusammenarbeit mit anderen Rechtsschutzorganen, zwischen den Struktureinheiten der Armee, mit den örtlichen Verwaltungen. Je nach Problemlage mussten wir uns um die unterschiedlichsten Aufgaben kümmern und nicht nur um einzuverlässiges Funktionieren des öffentlichen Nahverkehrs. Wir haben die Leute vor Ort mit Medikamenten und Lebensmitteln versorgt, tschetschenische Kinder auf ihrem Schulweg begleitet…
Oberst Romanjuk musste zum Beispiel auch die Rolle eines Diplomaten übernehmen und gleichzeitig die eines Unterhändlers auf spontanen Protestkundgebung der örtlichen Bevölkerung in Argun, nachdem in diesem Gebiet in der Nacht schwere Kampfhandlungen vonstatten gegangen waren. Es war eine gefährliche Konfrontation, kurz davor in Blutvergießen oder Handgreiflichkeiten oder sonst irgendetwas zu eskalieren. Die Situation spitzte sich immer weiter zu, man hatte den Eindruck, jeden Moment könne der Punkt erreicht sein, an dem die Situation nicht mehr zu kontrollieren sei…
In ein paar Minuten buchstäblich versammelte sich dort in der Ortschaft eine kaum zu haltende Menge Menschen, die gegen uns aggressiv eingestellt waren. Mich rettete nur, dass ich nicht das erste Mal in Tschetschenien war. Ich wusste, was für ein Benehmen ich an den Tag zu legen hatte. Ich hatte zuvor den Koran „studiert“, so für alle Fälle. Ich wusste, wie ich grüßen musste, wie ich mich den älteren Leuten gegenüber richtig verhalten sollte, den angesehenen Ältesten. Ich denke, bei dieser spontanen Protestkundgebung in Argun hat uns gerettet, dass ich auf der Stelle den Kontakt zum Dorfältesten gesucht habe. Deshalb hat uns die aufgebrachte Menge nicht in den ersten Minuten gleich in der Luft zerrissen. Ich ging zu diesem uralten Mann und habe ihn fest umarmt, wie es in Tschetschenien Sitte ist. Natürlich habe ich mich ihm nicht einfach um den Hals geworfen. Ich habe ihn zuerst gefragt: „Wie wollen wir uns begrüßen? Wie Männer? Oder anders?“ Er antwortete: „Wie Männer“. Danach haben wir uns so begrüßt, wie es in Tschetschenien unter Männern üblich ist. Vielleicht hat mich deshalb die Menge nicht in Stücke gerissen. Meine Mitarbeiter, die zur gleichen Zeit an den Schießscharten im Bahnhofsgebäude von Argun lagen, haben es mir gegenüber ein halbes, ein Jahr später erst zugegeben, dass sie die Menge schon im Visier hatten. „Michalytsch, wir hatten untereinander ausgemacht, dass wenn was schief läuft, geschossen wird, ohne großes Federlesen“. So war das damals. Über mich wurde sogar ein Lied geschrieben. Es ist auf der CD, die zum 85jährigen Jubiläum der russischen Verkehrspolizei herausgegeben wurde, und heißt „Dienstreise nach Tschetschenien“. Dieses Lied stammt von einem Offizier, der auch in Tschetschenien war. Er war 1995 mit mir zusammen in Tschetschenien, damals noch als Sergeant. Und er war 2001 mit mir dort, dann schon als mein Adjutant beim Stab einer Abordnung der russischen Verkehrspolizei, die ich damals kommandiert habe. Das Lied blieb deshalb in Erinnerung, weil es meine Stimmung von damals wiedergibt. Noch am Vortag hatte ich mich mit diesem Offizier einfach unterhalten über alltägliche Themen und Probleme. Und dabei kamen wir ins Reden, darüber, warum wir wieder in Tschetschenien sind. Nach all den Jahren, nach all den vielen Einsätzen (dieser Offizier war auch im Afghanistankrieg)… Warum sind wir wieder in Tschetschenien? Warum gerade wir und keine anderen? Wie stehen unsere Vorgesetzen zu unseren Dienstreisen? Und unsere Frauen und Familien? Warum kommen wir hierher, trotz der Gefahren und der Unannehmlichkeiten, wo wir doch genau wissen, was alles passieren kann, wenn sich die Situation zuspitzen sollte?
… Wenn man in Tschetschenien ist, können sich die Ereignisse für einen auf die verschiedensten Weisen entwickeln. Die Situation dort ist unvorhersehbar. Krieg ist eben Krieg. Unabhängig davon, ob er es nun einerklärter Krieg ist oder eben ein nicht erklärter, ob es der erste oder der zweite tschetschenische Krieg ist. Seit den ersten Kämpfen, seit Dezember 1994, sind am Kriegsschauplatz Tschetschenien elf Jahre vergangen…
Ich persönlich stelle mir eine Situation und die möglichen Folgen eines Schrittes immer möglichst objektiv und realistisch vor. Ich konnte nicht immer damit rechnen, dass ich aus der einen oder anderen Operation auf jeden Fall mit dem Leben davonkomme. Überhaupt wachst du im Krieg am Morgen auf und freust dich nicht so sehr am Leben, sondern denkst: „Ich brauche keine Auszeichnungen, keine Beförderungen, keine besonderen Dankesbezeichnungen, ich will nur irgendwie das Ende der Operation überleben, die Jungs schonen und unversehrt wieder nach Hause bringen. Und natürlich selbst nicht als Krüppel oder Wrack nach Hause kommen, das ist auch wichtig. Diejenigen, die an den Operationen teilgenommen haben, wissen, dass es für die Mehrheit der Beteiligten unumgänglich ist, ihr Leben zu riskieren, weil das hier an der Tagesordnung ist. Es gibt den Begriff “Persönliche Granate“. Ich zum Beispiel habe mich oft gefragt, wie ich in einer kritischen Situation reagieren würde? Ich wusste ja, dass Offiziere nicht in Gefangenschaft kamen. Könnte ich also im Falle diese Granate in die Hand nehmen, die du für dich aufgespart hast, um sie im allerletzten Moment einzusetzen? Das ist ein äußerst schwieriger psychologischer Moment, betont Oberst Romanjuk.
Obwohl die Dienstreisen nach Tschetschenien selbst, der Kontakt mit den Einheimischen, auch mit den obersten Befehlshabern, auch mit denen der tschetschenischen Seite, hinterlässt eine unauslöschliche Spur in der Erinnerung, im Leben. Im Krieg gibt es ganz andere Arten von Beziehungen als im Alltag. Besonders ist mir ein Treffen mit dem ehemaligen Stellvertreter des Innenministers der Russischen Föderation Michail Mefodjewitsch in Erinnerung geblieben, der leider in Tschetschenien umgekommen ist. Er stand der Hauptverwaltung des Südlichen Föderalen Verwaltungsbezirkes beim Innenministeriums der Russischen Föderation vor als ein Stellvertreter des Ministers. Er kam zusammen mit anderen Offizieren bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben. Sie wollten von Kisljara, hatten den Hubschrauber voll mit Paketen; in einem von ihnen war ein Sprengsatz. Er explodierte kurz nach dem Start des Helikopters. Das war 2001 oder Anfang 2002.
Im Krieg bin ich den verschiedensten Leuten begegnet. Manchmal hatten diese Treffen völlig unerwartete Fortsetzungen. Zum Beispiel denke ich heute, dass ich mich damals als glücklich zählen konnte: ich arbeitete mit dem heutigen Präsidenten von Tschetschenien zusammen. Ein sehr interessanter Mensch, wie viele andere auch, denen ich im Laufe des Krieges begegnet bin. Heute noch steht bei mir im Büro sein Geschenk, ein Adler ins Lebensgröße, sehr gekonnt aus einem einzigen Stück Holz geschnitzt. Früher hat man oft zu mir gesagt: „Häng dir diesen Adler lieber auf die Datscha“. Heute sagt das keiner mehr. Es ist eine Reliquie. In seinem Büro stand auf dem Safe fast der gleiche Adler. Er hat mir damals erzählt, dass jemand in seiner Verwandtschaft diese mächtigen Vögel aus einem einzigen Stück Holz schnitzen würde… Es ist immer wieder interessant zu sehen, welchen Verlauf das Schicksal nimmt: hier ein Geschenk vom Präsidenten von Itschkerien. Natürlich konnten damals weder ich noch sonst er ahnen, dass er einmal Präsident werden würde. Er selbst hat damals mit Sicherheit keinen Gedanken daran verschwendet. Er ist ein äußerst interessanter Mensch. Mutig und mit untrüglichem Gerechtigkeitssinn, seiner Heimat und Russland treu ergeben, ein Bild von einem Mann, und obwohl er Tschetschene ist, deklamiert er auswendig Gedichte von Alexander Puschkin und Michail Lermontow… Aber das ist schon wieder eine andere Geschichte. Die Geschichte des heutigen Ischtkerien. Das wichtigste für mich ist, dass ich mich für meine Einsätze in Tschetschenien nicht zu schämen brauche, ich habe nie Kompromisse mit meinem Gewissen oder meiner Ehre geschlossen. Wie meine anderen Kollegen auch war ich immer bemüht, meine Pflicht zu erfüllen und die Befehle auszuführen. Ich habe es nie bereut, dass ich die Polizeilaufbahn eingeschlagen habe.
… Jede Zeit hat ihre eigene Werteskala. Aber eines ist immer von unschätzbarem Wert: das Leben, das man in bestimmten Situationen aufs Spiel setzen muss. Nicht aus einer Laune heraus oder um Anzugeben, sondern weil der Dienst es verlangt, im Namen einer zukünftigen Welt, um der öffentlichen Ordnung willen und dem Wohl des Landes zuliebe. Wir alle sind unfreiwillige Geiseln dieses Krieges, solange bis die tschetschenischen Kriege ein Ende finden.
Ludmilla Filipowitsch


Übersetzung aus dem Russischen durch Herrn Alexander Kahl