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Deutsch-russisches Projekt / Massenmedien und Toleranz / Arbeiten der Wettbewerbsteilnehmer Askold Grechnjow "Bedeutet tolerant zu sein: alles dulden müssen?"
Heute kann man schwerlich jemanden mit der Bedeutung des Modewortes Toleranz überraschen. Fernsehen, Zeitungen und Zeitschriften rufen dazu auf in Übereinstimmung mit den Prinzipien der Toleranz zu leben, seiner Umgebung gegenüber nachsichtig zu sein, sich denjenigen gegenüber tolerant zu verhalten, die nicht so sind wie du…
Laut der Erklärung von Prinzipien der Toleranz, die von den Mitgliedsstaaten der UNESCO, darunter auch Russland, unterzeichnet wurde, bedeutet Toleranz „Respekt, Akzeptanz und Anerkennung der Kulturen unserer Welt, unserer Ausdrucksformen und Gestaltungsweisen unseres Menschseins in all ihrem Reichtum und ihrer Vielfalt“. Klingt nicht übel. Aber verstehen unsere Mitbürger Toleranz auf diese Weise? Mit dieser Frage mischten wir uns „unters Volk“, um an Ort und Stelle herauszufinden, was denn eigentlich „Toleranz für alle und den einzelnen“ bedeutet.
Was die Leute sagen
Die auf den Straßen von Jekaterinburg durchgeführte Umfrage zeigte eine bestimmte Übereinstimmung der Meinungen im Verhalten anderen Nationalitäten, Immigranten, sexuellen Minderheiten und AIDS-Kranken gegenüber. Es muss angemerkt werden, dass die als Gegenstand der Befragung gewählten Personengruppen, nicht zufällig ausgewählt worden sind. Es sind genau die Gruppen, um die es in dem Massenmedien geht, wenn man von „anders als die anderen“ spricht. Ob sich unsere Mitbürger diesen Personengruppen gegenüber tolerant verhalten oder nicht, war der Gegenstand unserer Umfrage.
Das denken die Leute über Immigranten, über Menschen anderer Nationalitäten:
Iwan E., 29 Jahre, Fahrer. Ich hab ein normales Verhältnis zu ihnen, aber besondere Sympathie rufen sie bei mir nicht hervor. Sie nehmen uns die Arbeitsplätze weg, arbeiten für den halben Preis. Ich denke, es ist notwendig, dass der Staat seine Bürger gegen die Flut von Ausländern schützt.
Nikolaj F., 23 Jahre, Student. Migration ist ein natürlicher Prozess. Man geht dorthin, wo man verdienen kann; Leute dafür zu verurteilen, darf man nicht, aber man muss dafür sorgen, dass Russland nicht große Probleme bekommt, wenn es mehr Gäste als Gastgeber gibt. Es ist ja kein Geheimnis, dass die Immigranten aus dem Süden Träger einer völlig anderen Mentalität als der unseren sind, ein Konflikt der Weltanschauungen, der Kulturen ist unausweichlich…. Es muss in zivilisierter Form gehandelt werden, aber handeln muss man auf jeden Fall. Marina M., 41 Jahre, Verkäufer. Natürlich bin ich tolerant, aber mir gefällt es nicht, dass die sich aufführen, als wären sie hier zu Hause, so herausfordernd. Ich persönlich möchte nichts mit ihnen zu tun haben.
Die Meinungen, Homosexuellen gegenüber:
Viktor N., 40 Jahre, Militärangehöriger. Für mich als normalen Menschen ist das nicht zu verstehen. Das ist wider die Natur. Meiner Ansicht nach sind Homosexuelle krank, aber in der letzten Zeit wird ihre Lebensweise regelrecht propagiert. Dagegen habe ich etwas. Von mir aus können sie machen, was sie wollen, aber ihre Anomalität an die große Glocke hängen sollten sie nicht.
Igor U., 34 Jahre, Systemadministrator. Meine Haltung in Bezug auf Homosexuelle ist durchaus tolerant. Ich hatte schon mit solchen Leuten zu tun, aber ich versuche, den Kontakt mit ihnen auf ein Minimum zu beschränken. Natürlich hat jeder das Recht, so zu sein, wie er ist, und ich versuche meine negative Haltung nach außen hin nicht durchscheinen zu lassen, aber, muss ich sagen, dafür muss man sich ganz schön anstrengen. In Gesellschaft eines Homosexuellen fühle ich mich nicht wohl.
Über das Verhältnis zu AIDS-Kranken:
Anna A., 48 Jahre, Lehrer. Für solche Leute habe ich kein Mitgefühl. Ihre Krankheit ist das Resultat von Unsittlichkeit, die sind selber schuld. Wie sollte man sich anders zu so was verhalten?! Schlimm genug, das sie mitten unter uns leben.
Aleksandr N., 28 Jahre, Geschäftsmann. Das kann jedem passieren. Das sind ebenso Menschen wie wir auch, sie hatten nur Riesenpech. Ich bin nicht auf der Seite derer, die fordern, AIDS-Kanke müssen isoliert werden usw., aber zu jemandem von ihnen Kontakt zu haben, wäre mir unangenehm.
Jewgenija T., 35 Jahre, Hausfrau. Ich hab mit diesen AIDS-Kranken nichts am Hut, unter meinen Bekannten gibt es zum Glück keine. Überhaupt ist AIDS die Quittung für ein amoralisches Leben.
Was die Zahlen sagen
In Zahlen ausgedrückt sieht die Toleranz noch beeindruckender aus. Im August 2005 hat das Analytische Zentrum Jurij Lewada (das Lewada-Zentrum) eine repräsentative Umfrage unter 1880 Russen an 128 Orten in 46 Regionen des Landes durchgeführt.
Auf die Frage, ob es notwendig ist, den Aufenthalt von Menschen der folgenden Nationalitäten zu begrenzen, antworteten 50% der Befragten mit „Ja“ für Vertreter der Kaukasus-Nationalitäten, 46% mit „ja“ für Chinesen, 42% für Vietnamesen, 31% für Angehörige der ehemaligen Sowjetrepubliken, 30% für Zigeuner, 18% für Juden, 8% für Ukrainer, 11% für alle Nationalitäten außer der russischen und nur 20% finden, dass keinerlei Begrenzungen egal für welche Nationalität notwendig sind.
Auf die Frage „Welche Politik sollte der Staat in Bezug auf Immigranten verfolgen?“ antworteten 59% der Befragten, man müsse den Zuzug begrenzen (2002 dachten 45% so, 2004 54%) Und auf die Frage „Spüren Sie im Moment Hass gegenüber Vertretern anderer Nationalitäten?“ antworteten 13% mit „sehr oft“ und 85% der Befragten mit „manchmal“.
Nach den Ergebnissen einer Untersuchung, die von der Friedrich-Ebert-Stiftung durchgeführt wurde, haben 43% der Russen eine negative Einstellung Vertretern der sexuellen Minderheiten gegenüber. Und die Umfragen, die von Organisationen zur Rehabilitierung von AIDS-Kranken durchgeführt worden sind, zeigen, dass über 50% der Bevölkerung HIV-Positive ablehnt.
Muss man sich über diese Zahlen wundern? In jeder negativen Einstellung der Bürger spiegelt sich auch ein Stück Politik des Staates wider. Zum Beispiel ist laut Regierungserlass Nr.188 eine Erkrankung an der Immunschwächekrankheit Grund für die Verweigerung (oder die Annullierung) einer befristeten bzw. unbefristeten Aufenthaltsgenehmigung oder Arbeitserlaubnis für ausländische Mitbürger und Personen ohne Staatsangehörigkeit. Die Moskauer Regierung verkündet, dass sie keine Gay-Parade in der Hauptstadt zulassen werde, obwohl das Versammlungs- und Demonstrationsrecht in der Verfassung verankert ist, Arbeitsimmigranten können keine Arbeitserlaubnis bekommen, obwohl sie im Rahmen des Quotenverfahrens eingereist sind, das wiederum von der Regierung bestätigt worden ist…
Die Deklaration ruft uns dazu auf, die reiche Vielfalt der Kulturen unserer Welt, unsere Ausdrucksformen und die Gestaltungsweisen unseres Menschseins zu respektieren, zu akzeptieren und anerkennen. Und man sollte darüber nachdenken, warum AIDS-Kranke zum Kreis der Ausgestoßenen gehören, wo sich doch ein jeder Patient der Chirurgie potentiell der Gefahr ausgeliefert ist, sich zu infizieren? Warum werden gering bezahlte, niedere Arbeitsplätze, für die sich Einheimische zu fein sind, plötzlich nur deshalb populär, weil es Immigranten sind, die die Arbeit machen? Was ist schlecht an der gleichgeschlechtlichen Liebe, wenn zwei Menschen miteinander glücklich sind?
Wenn sich jeder diese Fragen stellt, schaffen wir es womöglich die Begrenzung durch eigene Ängste und Stereotypen zu überwinden, auf die Politik des Staates Einfluss zu nehmen und unsere Gesellschaft zu verändern. Aber vorerst müssen wir uns mit dulden begnügen.
Askold Grechnjow, IA „Tjulpan“, Internationales Informationszentrum
Übersetzung aus dem Russischen durch Herrn Alexander Kahl
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