Deutsch-russisches Projekt / über das Projekt Gotthart Schwarz und das Projekt
Zur Bedeutung des Wortes Toleranz
Toleranz: aus dem lateinischen tolerare = ertragen, erdulden, bezeichnet in Politik, Gesellschaft und Sozialethik die:
• Bereitschaft, im Zusammenleben der Menschen neben den eigenen, auch die Ansichten, Meinungen, Auffassungen, die Gewohnheiten und die Verhaltensweisen anderer Menschen gelten zu lassen. • Daraus folgt der bewusste und durch die Gesetze geregelte Verzicht auf die Verfolgung einzelner Menschen oder ganzer Gruppen, deren Lebens- und Glaubensgrundsätze von den in der Mehrheitsgesellschaft etablierten abweichen.
Im Widerspruch zum Konzept der Toleranz stehen Begriffe wie:
• Vorurteil • Diskriminierung • Fremdenfeindlichkeit • Hass • Antisemitismus • Zensur
Das Toleranzprojekt in Jekaterinburg
Als mein Kollege Dr. Schröer im September 2005 mich einlud, als Experte an dem Projekt „Entwicklung der Toleranzkultur im Swerdlowsker Gebiet“ teilzunehmen, überwogen zunächst die Bedenken, auf das Angebot einzugehen. Die Sprache, das Land, seine Geschichte und seine Menschen waren mir fremd, die gegenwärtigen politischen Verhältnisse undurchsichtig und das Thema „Toleranz“ erschien mir an-gesichts der aktuellen Probleme des Landes ein wenig akademisch und aufgesetzt. Und außerdem – mussten es Deutsche sein, die 60 Jahre nach dem von Hitler-Deutschland begonnenen Krieg gegen die damalige Sowjet-Union nun als Experten für Toleranz und Demokratie ins Land reisen.
Die anfänglichen Zweifel wichen schlagartig von dem Augenblick an, als die Maschi-ne der Ural Airlines in Jekaterinburg landete und die Arbeit in den Workshops begann. Mit jedem der insgesamt 5 Besuche wuchsen das Interesse an und das Verständnis für die Probleme des Landes und auch die gegenseitige Verständigung über die Probleme und Schwierigkeiten von Reformprozessen in der kommunalen und staatlichen Verwaltung machten Fortschritte. Das war ein nicht immer leichter, aber sehr interessanter Lernprozess für alle Beteiligten.
Folgende Grundsätze einer zu entwickelnden Toleranzkultur wurden in den Arbeitsgruppen und Plenumsveranstaltungen diskutiert:
• Toleranz in einer Gesellschaft setzt einen Pluralismus in den gemeinsamen Wertüberzeugungen voraus. • Werte, Glaubensüberzeugungen und Handlungsmaximen werden nicht absolut gesetzt, sondern zugunsten anderer Meinungen und Überzeugungen relativiert und der freien Entscheidung der Menschen überlassen. • Andersartigkeit ist kein Grund für Sanktionen, sondern muss in einer demokratischen Gesellschaft aufgrund der Gleichheit aller Menschen toleriert werden. • In der demokratischen Erziehung und politischen Bildung wird Toleranz als aktive Bürgertugend gefördert und gilt als Kennzeichen des Rechtsstaats und einer „lebenden Demokratie“. • Die Menschen sind für ihre Überzeugungen und Handlungen verantwortlich, sie entwickeln sie über Erziehung und Erfahrung und sie übernehmen für ihre Überzeugungen die die Verantwortung.
Toleranz bedeutet Respekt, Akzeptanz und Anerkennung der Kulturen unserer Welt, … Gefördert wird sie durch Wissen, Offenheit, Kommunikation und durch Freiheit des Denkens, der Gewissensentscheidung und des Glaubens. … Toleranz ist eine Tugend, die den Frieden ermöglicht, und trägt dazu bei, den Kult des Krieges durch eine Kultur des Friedens zu überwinden (Auszüge aus der UNESCO-Deklaration vom 16. November 1995).
Toleranz wird in der pluralistischen Demokratie eine politische Tugend. Moderne Demokratien sind pluralistische Demokratien. Politisch und ökonomisch nehmen die Menschen über dezentrale Organe und ökonomische Interessengruppen Einfluss auf den Staat. Intermediäre Organisationen, private und freiwillige Institutionen sind not-wendig, um die Vielzahl der gesellschaftlichen Bedürfnisse zu bündeln und in die Po-litik des Staates einfließen zu lassen (pressure groups, Lobby-Gruppen).
Verschiedene Theoriekonzepte begründen und rechtfertigen das pluralistische De-mokratiemodell:
1) Der Staat achtet in der Rolle des „Schiedsrichters“ über die Einhaltung der demokratischen Spielregeln durch alle gesellschaftlichen Gruppen und Einzel-personen.
2) Die Regierung verhandelt und vermittelt zwischen den unterschiedlichen Interessen nach dem Prinzip des „Gebens und Nehmens (give and take) und stellt auf dem Wege der Kompromissbildung dass allgemeine Wohl in der Gesellschaft her.
3) In modernen Gesellschaften mit ihren vielfältigen ethnischen, religiösen, rassischen, ökonomischen und regionalen Gruppen kann keine Regierung die Interessen nur einer Gruppe durchsetzen und muss sich auf einen alle wichtigen Gruppen zufrieden stellenden Kompromiss einlassen.
4) Die pluralistische Demokratie ist entstanden, weil der Staat nicht mehr die Machtmittel und die politischen Möglichkeiten hatte, einer Seite und ihren Interessen zum Siege zu verhelfen, sondern den Ausgleich zwischen unterschiedlichen Interessen und Gruppen anstreben muss. Die Duldung abweichender politischer und religiöser Überzeugungen ist ein „notwendiges Übel, das einer Gesellschaft aufgenötigt wird, die Andersdenkende nicht unterdrücken kann oder aber die Kosten der gesellschaftlichen Unterdrückung als zu hoch empfindet“ (Wolff, S. 21).
5) Neuere theoretische Begründungen gehen von einer positiven Einschätzung der pluralistischen Demokratie aus und sehen in ihrer Vielfalt nicht ein „unvermeidliches Übel“, sondern eine Chance, einen hohen Wert und eine anzustrebenden Form der Gesellschaft.
6) Nur in einer pluralistischen Gesellschaft kann Toleranz sich entwickeln, muss sie entwickelt und gelebt werden – d.h. auch verteidigt werden. Toleranz folgt der Devise des „Leben- und leben lassen“. Sie besteht darin, das Recht entgegengesetzter, konkurrierender Interessen zu existieren und vertreten zu werden, bereitwillig anzuerkennen (Wolff, S, 27).
Literatur
UNESCO-Deklaration vom 16. November 1995).
Wolff, Robert Paul, Jenseits der Toleranz. In: Robert Paul Wolff, Barrington Moore, Herbert Marcuse: Kritik der reinen Toleranz. Edition Suhrkamp 181, S. 7-59. Frankfurt/M 1967
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