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Deutsch-russisches Projekt / Massenmedien und Toleranz / Arbeiten der Wettbewerbsteilnehmer Wladimir Oleschko "Das schwedische Syndrom"
Freunde baten mich über den nachhaltigsten Eindruck, den Schweden auf mich gemacht hat, zu berichten. Und ich musste irgendwie sofort daran denken, wie wir am Flughafen in Stockholm angekommen waren und mit dem Problem konfrontiert wurden, mit unseren Tickets an einem seelenlosen Automaten einzuchecken. Erstens muss man das selbstständig machen und zweitens darf man keinen Fehler machen, der, wie uns schien, zudem erst dann ans Tageslicht kommt, wenn man dich nicht ins Flugzeug lässt oder dein Gepäck in eine andere Stadt unterwegs ist oder gar in ein anderes Land. Mit dieser Art von Check-in kamen wir am Ende klar, aber die Frage blieb dennoch: Wozu wurde das so gemacht? Aus Ökonomie? „In unserem Land gibt es heute die Tendenz, Arbeitsplätze zu kürzen“, erklärten schwedische Kollegen, „Sozialprogramme garantieren jedem einen relativ hohes Einkommen oder eine hohe Rente, und irgendwo muss das ja eingespart werden…“. Überhaupt ist Schweden ein Musterbeispiel an verständlicher europäischer Pragmatik. Verständlich, denn zum Beispiel in den USA oder asiatischen Ländern kommt einem Russen vieles erst einmal irrational und unverständlich vor. Hier erkennt man im Gegenteil augenblicklich die Logik der Bräuche, Traditionen und Gewohnheiten der Leute. Zum Beispiel ist hier fast jede landwirtschaftliche Nutzfläche mit einer Steinmauer eingefasst. Luxus? Nein, die Flächen wurden über Generationen hinweg von Steinen und Kalkstein gesäubert, die nicht einfach weggeworfen oder weggebracht wurden, sondern stufenweise zu dieser Einfassung aufgeschichtet wurden. So kann man heute in der Nähe Vieh weiden lassen, ohne befürchten zu müssen, dass es davonläuft. Oder, ein anderes Beispiel: Datschen, Wochenendhäuser außerhalb der Stadt, öffentliche Einrichtungen, selbst die königlichen Sommerresidenzen sind entweder mit einer sehr niedrigen Abgrenzung eingezäunt oder haben einen Zaun aus blickdurchlässigem Schmiedeeisen. man hat den Eindruck eines Gartenlandes, das Land sei eine grüne Insel. Und unwillkürlich vergleicht man die Situation zu Hause: Haben wir nicht ein Land von Gefängnissen und einzelnen Zwergfürstentümern, wehrhaft gemacht mit hochgezogenen Zäunen und hässlichen Gittern vor den Fenstern? Ein Auto ist in Schweden weder Luxus noch Fortbewegungsmittel nicht einmal etwas Lebensnotwendiges. Es ist etwas wie teure Möbel. Ein echtes Fortbewegungsmittel, ein echter Luxus und erste Lebensnotwendigkeit ist das Fahrrad. Hier haben Fahrradfahrer Vorfahrt, nicht nur vor Autofahrer sondern auch vor Fußgängern. Auf jeden Fall wird der Schnee in den Städten zuallererst von den Fahrradwegen geräumt, dann von den Gehwegen und erst dann von den Fahrbahnen. Fahrrad fahren alle ohne Ausnahme. Für dieses Transportmittel sind um Städte und Dörfer herum eigene Wege angelegt, und in den Städten Gehwege mit Markierungen unterteilt, es gibt Fahrradparkplätze, ein autonomes System von Wegen abseits der Fahrbahnen für Autos. Die Vorteile liegen auf der Hand: erstens ist es gesund, als Ausgleich zur sitzenden Tätigkeiten, zweitens ist es absolut ungefährlich, drittens gibt es keinen Ort, an den man – im Unterschied zu Pkws oder Bussen – nicht gelangen könnte und viertens schont man das Familienbudget, denn Benzin ist hier nicht billig. Es ist angenehm, man gewöhnt sich schnell daran (ich spreche aus Erfahrung) und man erfreut sich an dieser absoluten Bewegungsfreiheit. Wenn das keine Pragmatik ist? Um so mehr, da es in Schweden Mode ist, sich sportlich zu betätigen. Hier werden Sie nicht häufig ungesund übergewichtige Leute auf der Straße sehen. Dafür überall Walker (schnelles, rhythmisches Gehen), Jogger, Schwimmer und Tänzer an den leeren Herbststränden. Und das von 5 Uhr morgens bis um 1 oder 2 Uhr in der Nacht, weil alle Sportplätze in diesem Zeitraum beleuchtet sind. Was das Essen betrifft, sind Schweden nicht mäklerisch, aber ebenso pragmatisch. Es gibt in der Regel viel Gemüse, Salat und Fisch. Wenn Fleisch, dann cholesterinfreies, wenn Bier dann leichtes. Alkohol ist sehr teuer. Eine Kollegin hat am ersten Tag in einem Cafe stolz verkündet, außer Wodka kenne sie kein echtes russisches Getränk. Nachdem sie 50 Gramm, der üblichen Portion, für 69 Kronen (ungefähr 280 Rubel) seufzte sie: „Nein, meine lieben Demokraten, nur Kwas…“ Für hochprozentigen Alkohol, Tabak und Luxusgüter setzt der Staat Preise fest, die einen vernünftigen Menschen nur abschrecken können. Aber niemand protestiert dagegen ernsthaft. „Was ist hier mit der Gleichberechtigung, der Idee der sozialen Gleichheit von Rauchern und Nichtrauchern?“ polemisierte ein Kollege. „Dabei heißt es, Schweden sei das Musterbeispiel für realisierten Sozialismus?“ Aber über Sozialismus spricht man hier nicht als eine in die Praxis umgesetzte Ideologie, sondern als ein Modell sozialer Garantien für jeden Bewohner des Landes. In Schweden sind die Sozialdemokraten von kleinen Unterbrechungen abgesehen seit fast 70 Jahren an der Regierung. Und das zeitigt Resultate, von denen ein Russe nicht mal träumen würde. Die durchschnittliche Lebensdauer der Schweden ist eine der höchsten in der Welt, 83 Jahre für Frauen, 80 für Männer. Und das bei einem Renteneintrittsalter von 65 Jahren für die einen wie die anderen. Die Geburtenrate wird von den meisten anderen europäischen Ländern beneidet: eine Durchschnittsfamilie hat hier nicht weniger als zwei Kinder. Jahr für Jahr steigt die Zahl der unterschiedlichsten sozialen Programme und garantierten Auszahlungen und so weiter und so fort. Manchmal ist das System der sozialen Garantien nach Einschätzung von Experten den Bürgern gegenüber unnötig loyal. Wie sich zum Beispiel herausgestellt hat, arbeitet ein Viertel der arbeitsfähigen Bevölkerung durchaus nicht deshalb nicht, weil sie Vollzeitarbeitslose sind. Hat man ein Attest vom Arzt, hat man dem Gesetz nach zwei Wochen lang Anspruch auf 80% des Lohnes vom Arbeitgeber und dann auf die gleiche Summe für eine unbegrenzte Zahl von Monaten oder sogar Jahren (!) von der Versicherung. Das ist für alle vorteilhaft… nur nicht für den Staat. „Ach, diese Schweden. Deren Probleme hätten wir gern“, möchte man denken, angesichts der unfassbaren Täuschungen der Scheinkranken oder ihrer Arbeitgeber. Am 8. März 2005 fegte über Südschweden ein Sturm. Er verursachte riesige Schäden in Forst- und Landwirtschaft, paralysierte für einige Zeit das gesamte Verkehrssystem. 16 Personen kamen um. Natürlich begannen die Versicherer sofort mit der Schadensberechnung. Mehr Opfer während des Sturms, gab es nach dem Sturm. Viele Landbesitzer begannen Selbstmord, weil sie sich für bankrott hielten. Manche konnten den Verlust ihrer Nächsten nicht verkraften. Jemand war einfach schockiert von dem, was er gesehen hat… Mit dem Unglück, das unerwartet auf einen hereinbricht, fertig zu werden, erwies sich für die am schwierigsten, die sich rundherum abgesichert fühlten. Das hat sich auch bestätigt, als schwedische Touristen Opfer der Naturkatastrophen in Südasien wurden. Die Reportagen von dort beherrschten lange Zeit die Fernsehschirme und Schlagzeilen der schwedischen Zeitungen. Am schrecklichsten erwiesen sich die ins Handy gebrüllten Worte: „Mein Gott, so viel Wasser…“ Ein sehr wichtiger Aspekt hängt übrigens mit der Tätigkeit der Massenmedien zusammen: Gibt es zum Beispiel Grenzen für eine realistische Berichterstattung als Folge dieser Ereignisse oder anderer Katastrophensituationen? Hat der „Pseudorealismus“ oder die „Pseudoobjektivität“ der Journalisten in ihrer Berichterstattung nicht unumkehrbare Folgen für die Psyche? Wie tief auch immer unser Mitgefühl für unsere Umgebung sein mag, wir gehen dennoch nicht jeden Tag auf Beerdigungen oder in Kliniken zu Todkranken. Doch nur in dem Fall, wenn es Verwandte oder Freunde betrifft. Warum also sind die Massenmedien überall voll mit negativen Informationen? Am Tag unserer Abreise wurde in allen Zeitungen detailliert über einen Unfall berichtet, in den der schwedische König Carl Gustav XXVI. bei der Erprobung eines Fahrzeugs verwickelt war. Mit Fotos, Kommentaren und historischen Parallelen. „Das interessiert alle schon alleine deshalb, weil der König eine öffentliche Person ist“, bemerkte ein schwedischer Kollege, „für solche Personen kann es keine „verborgenen“ Plätzchen geben. Obwohl alles, was mit der Legalität, mit der ethischen Seite der Materialaufbereitung zusammenhängt, allein Sache des Autors ist. Deshalb ist es bei uns nahezu ausgeschlossen, dass jemand als Journalist tätig ist, der keine journalistische Ausbildung hat. Daher ist es auch zur Norm geworden, dass die Mitarbeiter der Massenmedien in Kreativ-Seminaren ständig weitergebildet werden. Den Besitzern ist hierfür weder Zeit noch Geld zu schade. Weil sich das alles hundertfach bezahlt macht. Ist das bei Ihnen etwas anders? Aus irgendeinem Grund habe ich damals in dieser vertrauenswürdigen Umgebung von einem Dozenten zu Sowjetzeiten erzählt, der auf einer Ästhetik-Vorlesung verkündete: „Was habt ihr nur mit diesen ABBA am Hut. Die Schweden sind die Könige der Sittenlosigkeit. Auch in der Musik… Mein Gesprächspartner brach in Gelächter aus: „Ähnliche Urteile gab es damals in der ganzen Welt zuhauf. Schwedische Familie… Homosexualität… Lesben… Drogen… Unsere Presse hat darüber offen geschrieben und konkrete, nicht von Ideologien oder religiösen Ansichten gefärbte Probleme diskutiert, die an der Realität vorbeigingen. Jemand hatte offensichtlich Interesse daran, diese Dinge als allgegenwärtig erscheinen zu lassen. Wenn Sie so wollen, haben wir als eine der ersten das Thema Toleranz angesprochen. In einem Rechtsstaat gibt es keine verbotenen Themen, aber auch keine Möglichkeit, sich der Verantwortung zu entziehen, wenn du die Leute getäuscht hast, indem du z.B. die Macht der Massenmedien benutzt hast. Damals dachte ich: Kann man das Verhalten von Journalisten und Inhabern der Medienkonzerne intolerant nennen, wenn vorsätzlich oder unbeabsichtigt nur bestimmte Verhaltensmodelle, die Formierung nur einer Art von Kultur propagiert wird? In diesem Zusammenhang erinnere ich ein Ereignis, das vor einem Jahr stattgefunden hat. … Wegen Schneesturms über den Alpen flog unser Flugzeug aus Rom mit zweistündiger Verspätung ab. In der Folge verpasste ich meinen Anschlussflug „Prag – Jekaterinburg“. Ich musste bis zum nächsten Morgen auf das Flugzeug nach Moskau warten, um nun schon mit Umsteigen weiterzufliegen. Weil ich nichts anderes zu tun hatte, schlenderte ich durch den Internationalen Flughafen, trank ohne Ende wundervolles tschechisches Bier (am Flughafen ist das teuer, deshalb also bis ich meine letzten Euro aufgebraucht hatte), hörte mit meinem Player Musik und Radio. Und was mich damals verwundert hatte: Im Unterschied zu unseren Radiostationen, kamen selten Lieder auf Englisch. In jeder beliebigen russischen Stadt dröhnt einem aus dem Radio ein ganzer Sturm englischer Liedtexte entgegen, während die Djs in Prag in der Regel einheimische Lieder spielten und nur jedes dritte oder fünfte Lied ein Hit aus einem anderen Land war. Ich überprüfte diesen Eindruck dadurch, dass ich ziemlich viele verschiedene Radiostationen hörte. Ähnlich ist die Situation in Italien. Es geht hier natürlich nicht um mehr oder weniger Patriotismus oder fehlender Professionalität bei einheimischen Radiosendern. Es ist ein Geschäft mit Informationen, bei dem viel vom Rating der ein oder anderen Radiostation abhängt. Und dieses Rating erhöhen kann man dadurch, dass man die Neuheiten der Musikindustrie „bringt“. Bei uns in Russland werden geradeheraus gesagt wenige gute Hits geboren, und die einheimischen Komponisten und Interpreten werden Jahr für Jahr kundiger in rechtlichen Fragen und fordern materielle Vergütung für ihren kreativen Einsatz. Die Mechanismen zur Umsetzung des Autorenrechts auch für westliche Interpreten sind nicht ausgearbeitet, und wenn es auch nur die geringste Möglichkeit gibt, ein Gesetz zu umgehen, wäre es eine Schande, sie nicht zu nutzen. Einen ähnlichen Raub an intellektuellem Eigentum ist im Zeitalter der Globalisierung für die Produzenten der englischsprachigen Länder sogar von Vorteil. Bei taktischer Überlegung ist es eine kostenlose Promotion ihrer Hits und vom strategischen oder genauer gesagt kulturologischen Gesichtspunkt aus ist es die Durchsetzung der englischen Sprache als allgemeines Kommunikationsmittel. Wenn sich das gesamte reale und potentiale Publikum „English“ angeeignet hat, wenn es und folglich also auch in der Musikindustrie eine Abhängigkeit ähnlich einer Drogensucht entsteht, wird man die Bedingungen einer beidseitigen gesetzlichen Rege-lung diktieren können. Wenn Besitzer und Topmanager einheimischer Massenmedien laut über Professionalität nachdenken, haben sie häufig nur eine Seite der Tätigkeit im Sinn: die finanzielle. Und niemand hat natürlich heute das Recht ihnen zu diktieren, wie sie am effektivsten zu gestalten ist. Diesen Prozess ohne Kontrolle zu lassen, darf man aber auch nicht, denn er hängt mit der Sozialisierung in erster Linie von Kindern und Jugendlichen zu-sammen, der Formierung von Weltanschauungen und ästhetischem Emp-finden. In einer Reihe europäischer Staaten (z.B. in Frankreich) werden solche Probleme durch Gesetzgebung geregelt. Politische, selbst gut bezahlte unkontrollierte Schiebungen sind dort ausgeschlossen. Ebenso ausgeschlossen wie abstumpfende Reklame oder das ewig sich wiederholende (selbst als Wunschkonzert) „Quadrat“ der immer gleichen Melodien und Lieder, wie man unter Musikern sagt. „Solche Musik fördert nicht, sondern verdummt die Bevölkerung“, sagte einmal David Tuchmanov, Komponist der heiß geliebten Volkslieder „Tag des Sieges“ und „Lied des Ostens“ in Bezug auf dieses Phänomen. Wie sollte man mit ihm widersprechen?
Ich dachte immer, der Name der Stadt Kalmar käme von den uns im Wesentlichen als Salat bekannten Meeresdelikatessen. Dem ist aber nicht so. Kalmar bedeutet auf Schwedisch: Schlüssel. Eine Festungsstadt, die eine Meerenge kontrolliert, war einst der Schlüssel zum schwedischen Reich. Ihn zu verlieren, wie es im Krieg mit den Dänen geschah, hieß alles verlieren. Kalmar, Schweden, die Diskussionen unter Kollegen in der erstaunlichen Atmosphäre des FOJO wurden für mich zu einer Art Schlüssel zum Verständnis von, wie es mir scheint, sehr wichtigen beruflichen Wahrheiten. Die wichtigste davon ist so banal wie wichtig für die eigene Selbsterkenntnis: es kann in der Journalistik, in deinem Leben nicht nur ein Ziel geben: die ständige Jagd nach der entwischenden Information. Man muss wie beim Schach ständig die gesamte Partie im Kopf haben, das heißt in erster Linie die, denen deine Arbeit zugedacht ist. Die sehr verschieden sein können, selbst undankbar, aber früher oder später kommen alle zu dem Schluss: All das, was du für sie getan hast, hast du getan, um den Menschen zur Persönlichkeit zu erheben. Das nenne ich Vorgefühl der Toleranz. Als ich an dieser Veröffentlichung gearbeitet habe, fand ich meine Gedanken in einer Kolumne von Paolo Coehlo in den „Isvestijach“ vom 11. Oktober: „Arbeit wird zum Fluch, wenn sie nur dazu dient, uns vom Nachdenken über den Sinn des Lebens abzuhalten.“ Das gilt auch für uns Journalisten.
Wladimir Oschenko, Professor an der Fakultät für Journalistik der UrGU
Übersetzung aus dem Russischen durch Herrn Alexander Kahl
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