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Deutsch-russisches Projekt / Massenmedien und Toleranz / Arbeiten der Wettbewerbsteilnehmer
Wladimir Oleschko "Schnauz und Bart unterliegen nicht der Kritik"
„Smaland kann man ins Russische ungefähr wie Smolensk übersetzen: „Harzhauptstadt“, erklärt Veronika Menshun, Leiter des Austauschprojekts von schwedischer Seite und gleichzeitig unser unersetzlicher Übersetzer.
„Waldhauptstadt“ versucht jemand aus der Gruppe zu korrigieren, und weist auf die eindrucksvolle wie einem Schischkin-Gemälde entsprungene Landschaft vor dem Fenster des Volvos hin.
„Und die Stadt Veksjö, das Gebietszentrum, ist heute eine von Schwedens Zeitungshauptstädten. Stellen Sie sich mal vor, in dieser Region haben drei von vier Familien regelmäßig eine Lokalzeitung abonniert. Zum Medienkonzert der Stadt gehören 5 Zeitungen. Das ist selbst für unser Land atypisch.“
Übrigens kam mir der Name der Stadt bekannt vor. Nach einigem Überlegen… Gott, „vekschi“ wurden im alten Russland Eichhörnchen genannt. Es gab damals sogar eine solche Geldeinheit. Wir diskutieren heute in der Regel nur im technischen Sinne über die Globalisierung, dabei hat sie eigentlich schon zu Urzeiten begonnen.
Das Gespräch in der Redaktion der „Smalandsposten“ begann mit dem Versuch, das Phänomen zu erklären, warum die Lokalpresse allenthalben so erfolgreich ist. Robert Owen, einer der bekanntesten schwedischen Reporter, der seinerzeit aus Großbritannien immigriert ist, bemerkte beim Kennenlernen, dass er hieran nichts Verwunderliches findet. Nur eine Zahl: nach den letzten soziologischen Erhebungen lesen 87 Prozent der über 15jährigen Schweden regelmäßig eine Zeitung:
„Es wundert niemanden, dass das Kabelfernsehen Informationskanäle für jeden Geschmack anbietet. Nicht anders ist es im Zeitungswesen. Unserem Konzern könnten nicht nur fünf, sondern auch fünfundzwanzig Zeitungen angehören. Nur unter einer kleinen Bedingung: sie müssen alle eine Leserschaft haben, d.h. sie müssten mit der gleichen Intensität gekauft und gelesen werden. Deshalb ist eine Gesamtauflage von 200 000 bislang für uns optimal. Der Hauptfaktor in unserem Kampf mit dem Fernsehen, dem Radio und neuerdings auch in der Konkurrenz mit dem Internet ist das Vertrauen, das der Zeitung entgegengebracht wird, als neutraler Informationsquelle, das für jedes von ihr gedruckte Wort auch die Verantwortung übernimmt.
Er fuhr mit der Hand über die Seiten der aktuellsten Ausgabe mit seinem Artikel, vielleicht um sich vom publizierten Text zu verabschieden, vielleicht um eben die Worte zu suchen, die der Leser loben oder tadeln könnte:
„Die Auflage meiner Zeitung beträgt 40 000, aber nur eintausend Exemplare werden im Kleinhandel verkauft, an Gelegenheitsleser. Der Rest ist Abonnement. Für alle, für die nicht die Geschwindigkeit sondern die Aufbereitung der Information wichtig ist. Unsere Meinung zu aktuellen oder komplizierten Fragen ist wichtig. Der Mut des Reporters Fakten und Zeugnisse ans Licht zu bringen, die in der Gesellschaft auf Resonanz stoßen, die aber aus welchem Grund auch immer sorgfältig verheimlicht worden sind. Hier wird all das geschätzt, was einen echten Text von einem informativen „Schnellschuss“ oder einer Stegreif-Rede unterscheidet.
Führen wir die logischen Anmerkungen des Kollegen fort. Zum Beispiel gibt es weder in Schweden noch bei uns in Russland einen großen Anteil an politischen Informationen, der unmittelbaren Einfluss auf das Leben eines Durchschnittsbürgers hätte. Die Informationswelle, die täglich über uns hinweg rollt, ist in erster Linie von den Machtstrukturen auf den verschiedenen Ebenen initiiert, von politischen Parteien, Bewegungen, einzelnen „Newsmaker“, die in die Öffentlichkeit drängen. In der „Smalandposten“ schlug man nach verschiedenen Experimenten den folgenden Weg ein: Politik findet erst auf der zweiten Seite satt, wo zum Beispiel die Konservativen, denen die Zeitung Sympathie entgegen bringt, die Möglichkeit haben, selbständig ihre Ansichten zu erläutern oder wo die Meinungen der Redaktionsmitglieder vorgestellt werden. Dazu hat die 27. Seite die Überschrift: „Debatten und Stimmen“, hier werden in jeder Nummer Meinungen von Lesern abgedruckt, seltener von Vertretern der Öffentlichkeit im Zusammenhang mit irgendwelchen politischen Ereignissen. Das ist alles. Mehr „reine Politik“ wird Ihnen auf den Seiten der Zeitung nicht begegnen.
Staatliche Unterstützung erhalten in erster Linie Zeitungen, denen es … weniger gut geht. Die Motivation ist simpel: Gott bewahre, dass in einer bestimmten Region die Konkurrenz im Informationssektor verschwände. Die Unterstützung ist aber auch nicht endlos: Bist du nicht konkurrenzfähig, lass einen anderen sein Glück probieren… Übrigens gibt es hier seit 1850 ein Zeitungswesen.
Das erste Gesetz, das das Pressewesen regeln sollte, wurde hier schon 1766 angenommen. Dagegen wurde nur einmal verstoßen: In den Jahren des zweiten Weltkrieges war die Zustellung von kommunistischen Zeitungen verboten. Ein Gesetz über die Massenmedien im aktuellen Sinne gibt es in Schweden nicht. Es – welche Heuchelei – ist nach Meinung schwedischer Journalisten auch nicht nötig, da es das Gesetz über die Meinungs- und Pressefreiheit gibt, an dem selbst ein Komma nur durch die Entscheidung beider Parlamentskammern geändert werden darf. Der Begriff „Meinungsfreiheit“ ist natürlich der am weitesten gefasste und gibt den Massenmedien die Möglichkeit, Dinge zu initiieren, die im politischen, rechtlichen und jedem anderen sozialen Rahmen weiter gehen als bloße Worte.
Nach Veksjö kam ein solider ausländischer Investor, ein amerikanischer Rentenfond, der in die Rekonstruktion des alten Stadions und dessen Umgebung fast eine Milliarde Kronen investieren wollte. Stellen Sie sich mal vor, wie sich vor Ort gefreut haben muss. So war es auch, Politiker verschiedener Ebenen begannen aktiv, die Investitionen zu unterstützen. Und Robert Owen und zwei seiner Kollegen, Annika Johnson und Bosse Wikingsson, erlaubten es sich, als echte Profis an der Aufrichtigkeit der Intensionen der „Fremden“ zu zweifeln und stellten harmlose Fragen: Warum man ausgerechnet sie ausgewählt hat, eine im wirtschaftlichen Sinne eher depressive Region, und warum für ein solches an und für sich gewöhnliches Bauvorhaben eine so ungewöhnlich große Summe investiert werden sollte?
Ihre Zweifel wurden verstärkt, als unter der Adresse, an der den Unterlagen nach der Fond registriert und ansässig sein sollte, eine Bar entdeckt wurde. Sein Besitzer fragte auch nur „Ist wirklich schön geworden, nicht?, als er das Interesse an den bunten Flaschenreihen bemerkte und ließ sich gerne vor dem Tresen mit zwei hübschen Kellnerinnen fotografieren. Dieses Foto kam dann auf die Titelseite der Ausgabe vom 9. September 2004, in der die Ergebnisse der journalistischen Recherchen über die Tätigkeit der Organisatoren dieses „Gemeinnützigen Fonds“ veröffentlicht wurden.
Der Kern lag kurz gesagt in Folgendem: Irgendjemand hat Geld aus unbekannten Quellen (vielleicht sogar aus dem Drogenhandel) aus Paraguay zuerst auf eine kleine Bank in Florida verschoben, von dort aus nach New York. Die Dokumente wurden zurecht gezimmert und man versuchte, sich mit langfristigen Investitionen in soziale Programme in Schweden zu beschäftigen. Obwohl in der Veröffentlichung konkrete Zahler und Empfänger gigantischer Summen genannt wurden, die Namen der Organisatoren verschiedener Operationen, Fakten angeführt wurden und Geldbewegungen nachgezeichnet wurden usw. sahen die Journalisten ihre Aufgabe nicht darin, die Justiz zu ersetzen. Die Zeitung hat lediglich in Aufsehen erregender publizistischer Form die harmlosen Fragen gestellt: Wie konnte so etwas in einem Rechtsstaat geschehen? Wer ist für diese verbrecherische Vertrauensseligkeit in der Verantwortung? Was ist zu tun, damit sich Ähnliches nicht wiederholt? Und später wurden die Meinungen der Leser und die Stellungnahmen der Politiker, die sich mit aller Vehemenz von den Machenschaften dieses „Gemeinnützigen Fonds“ zu distanzieren versuchten, ungekürzt abgedruckt. Das Wort „Skandal“ in den Beiträgen der ersteren war noch der harmloseste Ausdruck.
Für diese Nachforschung erhielten die Journalisten ganze vier Preise: zwei regionale und zwei nationale. Eines der Symbole der insgesamt höchst professionellen journalistischen Tätigkeit und der Recherchetätigkeit im einzelnen ist bei den schwedischen Kollegen ein Spaten.
Ohne Hornhaut und ohne fundierte Kenntnisse über dessen Einsatzmöglichkeiten, lässt sich weder ein Haus bauen, noch Land urbar machen, um sich und seine Familie zu ernähren. Der „goldene Spaten“, die höchste Auszeichnung des schwedischen Journalistenverbandes, würde der „Smalandposten“ und Robert Owen schon mehrfach verliehen.
Er vertritt die Ansicht:
„Häufig ist der Ausgangspunkt für die Nachforschung eines aktuellen oder für die absolute Mehrheit der Leser wichtigen Themas nicht so sehr die Fakten, die uns in die Hände kommen, sondern ganz einfach menschliche Neugierde. Wie es auch mit dem „Fond“ der Fall war. Oder ein anderes Beispiel. Kürzlich stellten wir Überlegungen an, wohin verschwindet das Geld von allein stehenden Personen nach ihrem Tod? Aus der Versicherung oder aus dem Verkaufserlös der Besitztümer bleiben manchmal gigantische Summen. Oder wie viel Interessantes findet man in den Leserbriefen oder den Reaktionen im Internet auf deine Publikationen! Man muss nur lernen, offen und interessant für die Leute zu sein.
… Unser Gespräch in der Redaktion war lang und gründlich. Am Ende konnte ich mich dann doch nicht mehr zurückhalten:
„Für Sie ist Schweden zu einer zweiten Heimat geworden, als Sie schon verhältnismäßig alt waren. War es dem Journalisten Owen in England zu eng geworden?“
Robert lächelt:
„Der Journalist Owen interessiert sich für Schweden nicht das erste Jahrzehnt. Selbst meinen Schnauz und meinen Bart werden von meinen Kollegen nicht mehr kritisiert… Aber im Ernst. Hier ist es gut, wie soll ich sagen, für jede Andersartigkeit. Das ist besonders in jungen Jahren sehr wertvoll. Um als Persönlichkeit nicht gebrochen zu werden. Zuerst ist man darüber verwundert, dann nervt es ein wenig, man hat den Eindruck, keiner interessiere sich für einen, aber daran gewöhnt man sich schnell und du hörst auf, die Grenzen einer fremden Individualität wahrzunehmen, das ist wie Atmen. Du wirst nur dann kritisiert, wenn du rücksichtslos die Freiheit eines anderen verletzt. Kollektiv – bedeutet nicht „alle über einen Kamm scheren“, individuell heißt nicht „abseits von allen“. Du bist ein Unikat, das seine Farbe zur Buntheit des Lebens beiträgt. Ohne dich wäre die Welt unvollständig, teilweise einfarbig. Aber du allein machst es auch nicht bunt… Ich habe diese Universität der Toleranz als Experte aufgesogen. Habe ich damit die Frage beantwortet?
Übersetzung aus dem Russischen durch Herrn Alexander Kahl