Deutsch-russisches Projekt / Massenmedien und Toleranz / Arbeiten der Wettbewerbsteilnehmer
Ich hatte das Glück, den September des vergangenen Jahres in Italien verbringen zu dürfen. Es ist wirklich ein Glück, denn jegliche Arbeit inmitten der göttlichen Pracht einer Herbstzeit am Mittelmeer wird einem zur schieren Freude. Gewöhnlich möchte man nach jeder Auslandsreise. sich „ausschreiben“, die Eindrücke festhalten, das Gesehene durchdenken. Aber seltsamerweise haben dieses Land, in dem die Geschichte wie ein Band im Zopf einer Schönheit allgegenwärtig mit der Gegenwart harmonisch verflochten ist, die ewige Stadt, vielfach von den Größten beschrieben, die Italiener, die durch ihr Cholerisches und ihre Emotionalität manchmal wie Außerirdische scheinen, so auf mich gewirkt, dass ich nur über etwas genauso Reiches an Ewigkeit und Emotionen schreiben wollte. All das sprudelte wie ein Springbrunnen von Eindrücken und floss in das dankbare Gedenken von Bewusstsein und Unter-bewusstsein.
Schweden, wo ich in diesem August mit einer Gruppe von Kollegen bei einem Praktikum in der Schule für Journalisten-Weiterbildung (FOJO) in Kalmare war, ein Land auf den ersten Blick eigen in allem bis zur letzten Kleinigkeit vielleicht? Es erdrückt nicht mit Andersartigkeit: auch die Natur ist unserem Ural ähnlich und das Wetter ist ebenso „unnachgie-big-vertraut“ und die Stadt- und Dorfbilder sind häufig ähnlich, ja und die Menschen erinnern ihrem Temperament und ihrer Lebensart nach mehr an Russen als alle anderen. Natürlich spürte man allenthalben Stereotypen: „Schwedische Schränke“, „Schwedische Zündhölzer“ oder hartnäckige Werbeslogan wie „Electrolux – mit Verstand gemacht“ oder die Propagandaklischees aus sowjetischen Zeiten: „Schwedische Familie“ als Gipfel der westlichen Sittenlosigkeit…
Was aber verwundert hat und mich eigentlich gezwungen hat, mich hinzusetzen und diese Anmerkungen zu schreiben: Hier, wie es mir scheint, habe ich die echte Bedeutung des für die Mehrheit unserer Mitbürger schwierigen Terminus „Toleranz“ verstanden. Ist sie für uns doch sehr gewöhnungsbedürftig, diese „Duldsamkeit“.
„Was lange währt, wird endlich gut“ überlassen wir dem Domostroj, bemerkte der intelligente Consulting-Trainer Klas Iwanowitsch, der sich besser als manch unserer Landsmänner in der Geschichte Russlands auskannte.
Eigentlich ist Klas Top ein reinblütiger Schwede ohne russische Wurzeln. Einmal erzählte er, dass einer seiner Vorfahren den russischen Namen Iwan hatte, mit Betonung auf der ersten Silbe; daraufhin bekam er in unserer Gruppe diesen nichtoffiziellen Namen.
In Schweden kann man sich mitunter deutlich als „Neandertaler“ vorkommen, wenn man aus Gewohnheit oder einer ewigen Wachsamkeit heraus, wie man so schön sagt, „für alle Fälle“ selbst in Rededuellen am Prinzip „Auge um Auge – Zahn um Zahn“ festhält. Und man kann sich noch einmal von der Anfechtbarkeit einer solchen Herangehensweise überzeugen. Wenn zum Beispiel auf eine bescheidene Frage wie „Und welche Nationalität wird bei diesem Mädchen in den Ausweis eingetragen, wenn es groß ist?“ (Das Kind war eindeutig asiatischer Herkunft) die mit einem Lächeln formulierte Gegenfrage ihrer blonden schwedischen Mutter folgt:
„Das wird sie selbst entscheiden. Wenn sie groß ist und nur wenn sie es braucht für ihre Selbstidentifikation (Auf Englisch klingt dieses Wort weniger trocken und leblos-bürokratisch). Ist es denn so wichtig, was für eine Nationalität man zum Beispiel hat oder wie alt man ist, oder – heute untersucht man gar die Malerei danach, welches Geschlecht Mona Lisa in Wirklichkeit hatte, die Leonardo genial auf der unsterblichen Leinwand portraitiert hat?.. Für wen ist das wichtig? Das persönliche Leben der Frau mit dem rätselhaften Lächeln ist für alle ein Geheimnis geblieben, wer auch immer dieser Person nahe gestanden haben mag…
Oder ein anderes Beispiel. Ein pedantischer Kollege wollte immerzu wissen, warum die Lehrer so aktiv mit Journalisten aus Vietnam zusammenarbeiten und sowohl in Schweden als auch in dem asiatischen Land systematisch Seminare und Trainings durchgeführt werden?.. Die Antwort war kurz und desillusionierend:
„Wir sehen darin, wenn Sie so wollen, unsere Mission…
Ich hatte den Eindruck, dass dieser junge Mann selbst, der wohl kaum die historische Vorgeschichte kannte, wie das kleine Land zwischen Hammer und Ambos zweier Supermächte geraten ist, diese Antwort als ausreichend empfand. Obwohl, ich urteile hier am eigenen Beispiel, das Unpräzise mancher Verständnisse, gewöhnlich bei Diskussionen über die „offene Gesellschaft“, der Unumkehrbarkeit der Globalisierungsfolgen, die aber aus irgendeinem Grund für uns nicht aktuell zu sein scheinen, gewinnt nicht sofort konkrete Züge. Und was bei diesen Ge-dankenprozessen für den Menschen zählt, sind in keiner Weise die Wörter. Auch nicht die der Politiker oder Lektoren mit der größten Autorität. Nur die Erfahrung, nur das mit eigenen Augen Gesehene oder das überzeugend von denjenigen Erzählte, denen du vertrauen kannst.
Insofern kann ich über die schwedische, italienische usw. Toleranz, über die gesamteuropäische, auf der Grundlage der wenigen hier verbrachten Wochen nicht als etwas im Bewusstsein klar Systematisiertem urteilen. Es ist eher ein Vorgefühl der Toleranz als etwas ein für allemal Erreichtes für einen und vielleicht für die ganze Menschheit. Etwas, ohne das wir alle unter den neuen Bedingungen unmöglich überleben können.
Übersetzung aus dem Russischen durch Herrn Alexander Kahl