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Nikitin Sergej Petrovich "Wo seid ihr heißen finno-ugrischen Kerle?"


Vom 20.12.2005.

Rubrik "Der Ural - unser gemeinsames Haus"

Jeder Mensch ist einzigartig, anders als andere, hat aber Ähnlichkeit mit den Mitgliedern seiner Familie, ist mit ihnen von einer Art. Genauso einzigartig ist auch jedes Volk, aber ihm ist etwas inne, das ihn mit seinen Brüdervölkern verwandt macht. Die äußerliche Gestalt, die Trachten, die Weltanschauung oder die Sprache.

Das vor kurzem in Jekaterinburg und Juwa durchgeführte Festival der finno-ugrischen Völker war der Anfang einer Erneuerung von alten verwandten Verbindungen. Gewiss hat sich viel geändert in den tausend Jahren, die die heutigen Mari, Mordwinen, Udmurten und Mansi von ihren ersten Erwähnungen in schriftlichen Quellen trennen. Aber umso wichtiger ist es, einander anzusehen und Rechenschaft zu geben, was aus uns wurde.

Praktisch das ganzes Territorium des Gebietes war im Altertum mit Finno-Ugoren besiedelt: Ackerbauer, Jäger, Hütter, Viehzüchter, Städtebauer. Ständig lebten hier Mansi. Vor vierhundert Jahren begann "die zweite Ankunft" - die Rückkehr der Udmurten, Komi, Mari und Mordwinen.

Nach einer Volkszählung von 1989 lebten im Gebiet 32 000 Mari, 15 000 Udmurten, 10 000 Mordwinen und ungefähr 200 Mansi. 2002 28 000 Mari, 12 000 Udmurten, 8 000 Mordwinen und ungefähr 100 Mansi. Für diese Periode haben viele Völker, und in erster Linie die, die dem Islam anhängen, ihre Zahl vergrößert.

Der Rückgang der Bevölkerung ist besonders auffällig in den kleinen Siedlungspunkten, wo sich alle kennen. Als Beispiel werde ich das Dorf Werchnij-Bugalysch im Bezirk Krasnoufimsk anführen, wo 1993 versucht wurde, eine eigene Kolchose zu gründen. In ihren Mitgliedslisten sind 374 Teilhaber eingetragen: 105 Rentner, 126 Arbeiter der Sowchose und 143 in anderen Organisationen Tätige. 2003 wurden die Listen durchgesehen und neben jedem Namen eine Erläuterung notiert. Das Ergebnis ist folgendes: im Dorf geblieben sind "von der Liste" 227. Umgezogen sind 54, manche mit der ganzen Familie. Verschieden sind 78, von ihnen 32 in arbeitsfähigem Alter. Die Todesursachen der letzteren sind schrecklich: zu Tode getrunken, sich mit "Fusel" vergiftet haben 14; umgebracht wurden 5 (ebensoviele "sitzen"); durch Unfälle umgekommen sind 4; durch Selbstmord 3; durch Krankheiten 6. Aus fast denselben Gründen haben ebenso viele Rentner diese Welt verlassen, und nur die wenigsten wegen Altersschwäche! Schwermütig stehen die zwanzig leeren Häuser da, die Jugend verlässt das Dorf.

Natürlich gibt es auch positive Beispiele: die GmbH "Tawra", der landwirtschaftliche Betrieb "Erfolg". Aber das ist zu wenig In anderen Dörfern ist die Lage schlimmer. In Kurki im Bezirk Artinsk, in Starobucharo im Bezirk Nishneserginsk gibt es keine Unternehmen, nur Privathöfe. Unter solchen Bedingungen kann man überleben, ein paar Jahre leben, aber ein ganzes Leben so zu verbringen, wird selten wer einverstanden sein.

Das neue Jahrhundert fing im Dorf Upeja (Upede) im Bezirk Nishneserginsk damit an, dass festgestellt wurde, dass nur ein Bewohner hier angemeldet ist. Wie viele Dörfer  zum Ende des Jahrhundertes übrig bleiben, hängt von uns, den heute Lebenden, ab. Vom Schmerz gezeichnet sind die Worte der Vorsitzenden der Gesellschaft "Odomi" E.Vahrusheva: "Seinerzeit sind zweihundert Familien aus Udmurtien in das Dorf Patruschi im Bezirk Sysertsk gekommen. Die Übersiedler arbeiteten so gut, dass der Betrieb bald zu einem Mustervorbild wurde, Millionengewinne machte. Und heute ist der Betrieb, unter einem neuen Besitzer, bankrott. Die Arbeiter können ihre Eigentums-und Landanteile nicht geltend machen. Schmeiß alles hin und kehr "im letzten Hemd" nach Udmurtien zurück!".

In der regionalen Presse musste man lesen, dass die Mansi im Wald hinter Iwdel in einem Winter beinahe verhungert wären. Geschrieben wurde auch darüber, dass sie böswillige Wilddiebe seien. Aber nur beiläufig wird erwähnt, dass "die Kinder der Natur" nicht die Herren ihrer Jagdgründe sind: der Wald wird gerodet, die Taiga wird wie in den alten Zeiten, von "Typen" heimgesucht, die ausgerüstet mit automatischen Waffen, Dynamit, Netzen, Alkohol, weder auf dem Festland, noch auf dem Wasser, noch in der Luft ihre Grenzen kennen. Sie brennen Jagdhütten nieder, fällen Zedern, fangen Fische mit Handgranaten, zünden den Wald an und füllen die Mansi mit Alkohol ab. Unter fast Kriegs-Bedingungen, ohne stabilen Vertrieb ihrer Erzeugnisse, ohne Eigentumsrechte auf ihre Jagdgründe können die Mansi ihre Tier- und Fischwirtschaften nicht führen, keine wild wachsenden Früchte sammeln oder Hirsche züchten. Sie ziehen sich immer weiter in den Wald zurück, leben ohne Elektrizität, ohne Schulen, ohne Krankenhäuser und sterben lan
gsam aus. Sollte den Iwdelsker Mansi wirklich dasselbe drohen, wie den Tschusowskern vor zweihundert Jahren: "Die Räuber haben die Wogulen vertrieben", schrieb ein Heimatforscher. Die Räuberei dauert an.

Die angeborene finno-ugrische Bescheidenheit und ihr Feingefühl haben dazu geführt, dass wir irgendwie fast nicht existieren. Deshalb bemerkt man uns nicht, berücksichtigt unsere Interessen nicht. Es gibt keine Vertreter von uns in den Korridoren der Macht. Und sogar das Mitglied des Beirates in Nationalitäten-Angelegenheiten beim Gouverneur des Gebietes, V.Kandybaev, einer von uns, nimmt tatsächlich an der Arbeit des Rates nicht teil: er lebt zu weit weg.

Dadurch, dass die volkseigenen Feiertage und Traditionen nicht begangen und gepflegt werden, bewahren wir weder sie noch uns selbst. Deshalb kommen die eindruckvollsten Bühnenmomente anderen zugute. Übrigens werfen die Absolventen der Suworow-Militärakademie silberne Münzen hinter sich. So verabschiedeten sich Jahrhunderte lang die Mari-Rekruten von ihren Verwandten, dem Fluss und den Geistern. Man "übernimmt" von uns auch musikalische Motive, Elemente unserer Kleidung und unseres Schmuckes. Die Zeiten, als wir mit Exotik begeistern konnten, sind vorbei. Es braucht eine Entwicklung hin zu tiefem, allseitigem Wissen und der Fixierung von Bräuchen; ihr durchdachtes und gewissenhaftes Studium ist notwendig.

Man hat aufgehört, uns für ein Subjekt der Geschichte, das heißt für einen aktiven Teilnehmer an historischen Prozessen zu sehen. Die, die Forscher vor der Revolution für "die Heldentat der Kolonisierung" lobten, und P.P.Bazhov "Erstbesiedler des Uralgebirges" nannte, wurden durch die Bemühungen heutiger Historiker zu einfachen Siedlern. Das 230jährige Bestehen des Mari-Dorfes Karschi nicht zu begehen, das vor 340 Jahren zum ersten Mal urkundlich erwähnt wurde, ist das Gleiche wie aus der Geschichte der Städte Sankt Petersburg, Brest oder Smolensk die ruhmreichen Seiten zu entfernen! In wissenschaftlichen Arbeiten wird erwähnt, dass Bolschaja (Tscheremisskaja) Tavra 7016, das heißt nach moderner Zeitrechnung 1508, als 90 Jahre vor Werchoturje gegründet worden ist. 1542 wurde dort ein Wachpunkt eingerichtet worden, als dem äußersten besiedelten Punkt des Permer Gebietes. Aber wer weiß davon?

Das 1000jährige Jubiläum von Kazan wurde breit begangen, man sprach überall von zwei Völkern, zwei Religionen. Aber die Schriftdenkmäler sagen: "Die ersten Bewohner Kazans waren Mordwinen, Bulgaren, Tscheremisen und Wotkalen". Die erwähnten Völker haben 550 Jahre das Kasanische Khantum befriedet und geschützt. Die finno-ugrischen Spuren am Ural sind zahlreich: im Hüttenwesen, im Bauwesen, in der Toponymik. Wer käme darauf, dass Bazhenov ein alter mordwinischer Nachname ist?

Aber ich bin Gedanken fern, dass der Beitrag unserer Völker von jemandem bewusst "unterschlagen" würde. Nein. Es ist Resultat unserer Unwissenheit, unserem Schweigen und unserer Gleichgültigkeit.

Die Führung des Gebietes Swerdlowsk führt eine weise, ausgewogene Politik in Fragen zwischenvölkischer Beziehungen durch. "Die erste Geige" spielt Gouverneur E. Rossel. Unter mehr als 100 national-kulturellen Vereinigungen gibt es die Mari-Verbände "Mari", "Pamasch", "Pial", den udmurtischen "Odomi"" und den mordwinischen "Od pinge". Die finno-ugrische Öffentlichkeit ist dem Zentrum der Kultur "Verch-Isetsky", dem Regionalen Haus des volkseigenen Schaffens, dem Haus des Friedens und der Freundschaft dankbar für die allseitige Hilfe und Unterstützung .

Die Massenmedien lassen die durchgeführten Veranstaltungen nicht ohne Aufmerksamkeit. Die "Regionalzeitung" veröffentlicht ständig Materialien über die Werktätigen der Maridörfer, die kulturellen Ereignisse, über Probleme und Errungenschaften. Das Regionale Fernsehen zeigt in der Sendung "Messung N" oft Sujets, die vom Regional-Haus der Folklore und dem SGODNT vorbereitet worden sind. Leider wurden die Sendungen im Rundfunk gekürzt. Und noch größeres Bedauern ruft hervor, dass die Aktivisten der nationalen Gesellschaften selten selbst als Autoren der Materialien auftreten. Als ob sie die Frage nicht bewegen würde: Wie lange noch können sich die Finno-Ugren am Ural als Volk noch halten?

Heute gibt es Leute unter ihnen, die Erfolg in verschiedenen Sphären haben, es sind Vereine registriert, in einem bestimmten Kreis sind ihre Leiter bekannt, aber es gibt keine gesellschaftliche Bewegung. Keine Vorwärtsentwicklung, es gibt keine zielgerichtete planmäßige Arbeit. Und als bitteres Ergebnis ist nicht eines der edlen Ziele, die bei der Schaffung der nationalen gesellschaftlichen Organisationen vor vielen Jahren gestellt wurden, erreicht worden!

Auf der Suche nach Auswegen aus diesem "Rückzug von allen Fronten", hoffe ich, werden wir erfolgreich sein, wenn wir die Vereinigung in eine finno-ugrische Organisation nicht weiter aufschieben. Wir haben die 90er Jahre erfolgreich "verschlafen". Aber in diesem historischen Moment mit "der ausgestreckten Hand" da zu sitzen, würde bedeuten, endgültig aufzugeben.

Vier nationale Projekte, die von Präsident V. Putin vorgebracht worden sind, zielen auf die Bedürfnisse der einfachen Leuten. Wir teilen die Politik E. Rossels unter der Losung "Schutz der Urbevölkerung" voll und ganz! Im Kongress des Marivolkes hat die Uraldelegation den Vorschlag eingebracht, festzustellen, wie viele Mari-Familien überhaupt noch existieren, was sie brauchen, wovon sie leben, womit man ihnen helfen kann? Und der Gouverneur gab diese Fragen an die Verwalter der Bezirke weiter.

Welche "Fürsprecher" in den Regierungsstrukturen brauchen wir nach solchen Initiativen der Oberhäupter des Landes und des Gebietes noch? Von welcher Lobby träumen wir? Wie lange will man noch heulen? Ist es nicht höchste Zeit, sich in die Arbeit einzuschalten? (Um die Wahrheit zu sagen, brächte uns allein die kompetente Verwendung des Bildes "heißer finnischer Kerl" mehr Nutzen, als eine nationale Fraktion in der Staatsduma).

Ich denke, dass die Mari des Mittleren Urals heute eine einzigartige Möglichkeit zur Wiedergeburt bekommen haben. Weil es erstens das zahlreichste finno-ugrische Volk des Gebietes und des Uraler Föderationskreises ist (37 000), zweitens die Siedlungsflächen geschlossen sind, es drittens Hunderte von Leuten unter ihnen mit Hochschulbildung gibt: Unternehmer, Juristen, Wissenschaftler, Ärzte, Manager. Gerade die Mari können die Finno-Ugren des Gebietes konsolidieren, zu einer Art "Lokomotive" werden, in den eigenen Augen wachsen und sich um der Blüte Willen mit der sich ändernden Welt verbinden. Das kann man auf der Grundlage von neuen Ideen, eines ungewöhnlichen Herangehens, eines "mobilisierenden" Projektes erreichen, das sich auf die Eigenart, den Fleiß, die Anspruchslosigkeit, Gesetzeshörigkeit der Völker stützt.

Es sind gute Grundlagen für die ökonomische, politische und kulturelle Selbstständigkeit des einzelnen Menschen, der Familien und Siedlungen geschaffen worden: die Gesetze über den Grundbesitz, über die lokale Selbstverwaltung und andere. Man muss diese Gesetze erfüllen und nutzen, an den föderalen, regionalen und internationalen Programmen teilnehmen, für Beihilfen kämpfen. Es ist, denke ich, ein regionales Gesetz " Über die Ureinwohner Mansi" notwendig und die Bildung eines ethnografischen Landschaftsparks im Norden des Gebietes. Der Park kann in die Erschließung der Ressourcen des Nördlichen und Polarkreis-Urals eingegliedert werden und sich an solche unter Schutz stehenden Gebiete wie das CHMAO, die Republik der Komi und den Permer Kreis anschließen.

In der Tätigkeit der gesellschaftlichen Organisationen ist es höchste Zeit, von allgemeinen, verschwommenen Aufgaben, wie "verbessern", "vertiefen", "bitten" wegzukommen. Man braucht ein konkretes, handgreifliches Ziel, wie zum Beispiel: Bis 2010 die Anzahl der Mari auf einem Niveau von 28 0000 Menschen zu sichern, bis 2015 die 30 000er Marke zu überwinden. Mehr braucht es nicht! Nur zwei zeitweilige Grenzen, zwei qualitative Zahlen. Aber bei näherer Betrachtung werden wir sehen, dass für das Erreichen dieses Zieles in einige Richtungen gegangen werden muss: die Probleme der Kultur, der Bildung, der Gesundheitsfürsorge, der Beschäftigung, des Wohlstandes müssen gelöst werden, nicht um Hinweise von oben gebettelt, sondern im Dialog, in der Wechselwirkung mit den Machtorganen, ohne radikale emotionale Lösungen, die zu nichts führen.

Ein weiteres Kalenderjahr geht zu Ende. Jedes Volk nennt solche Perioden auf ihre Weise. In der Mari-Sprache bedeutet "Jahr" "Ij", wörtlich: "Eis". Offenbar, hat sich in das historische Gedächtnis des Volkes eingegraben, dass der Frühling, der Sommer und der Herbst nur dazu dienen, um den Winter zu überstehen. Ein neues Jahr bricht an, und von engagierten, ehrlichen, mutigen Leuten hängt es ab, ob es für unsere Völker der Anfang des "ewigen Eises" oder das Tor zu einem wonnigen Sommer wird.

Sergej Nikitin, Mitglied des Gesamtmarier Rates im Gebiet Swerdlowsk, Vorstandsmitglied der regionalen Mari-Gesellschaft.

 Übersetzung aus dem Russischen durch Herrn Alexander Kahl